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Alt 04.12.2021, 16:55
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Der Prophet aus Berlin

Voller Neugierde und Vorfreude bin ich einige Male bei den Stadionführungen dabei gewesen, als die Hütte noch gebaut wurde. Voller Erwartungen stellte ich mich an verschiedenen Stellen, meist weit oben, und stellte mir vor, wie das Jubeln und Feiern in solch einem Stadion sein würde. Ich war davon überzeugt, dass uns goldene Zeiten bevorstehen würden. Niemals hätte ich daran gedacht, dass uns so eine Talfahrt, so ein Absturz in die Hölle bevorstehen könnte.

Nachdem der Schock im Eröffnungsspiel gegen St. Pauli überwunden war, machte ich mir nach wie vor natürlich weiter Hoffnungen, dass uns das Stadion doch noch irgendwie beflügeln könnte. Zwar vermisste ich den richtigen Tivoli, auf dem ich seit 1974 Dauergast war, aber ich hatte eigentlich eher positive Gefühle, als es um einen Neubau ging.

Um auch nach der schmerzhaften Eröffnungsniederlage weiter schön für die Alemannia zu werben, nahm ich meine erwachsenen Söhne mit zum Spiel gegen Union Berlin, im Jahr 2009 muss es gewesen sein. Jeder von den beiden brachte noch einen Freund mit. Die beiden "Gäste" waren Studienkameraden meiner Söhne, also nicht aus Aachen. Als wir dann auf die Sitzplätze auf der Nordtribüne kamen, staunten unsere Gäste aus Münster nicht schlecht. Wir blickten auf eine volle (jetzige) Werner-Fuchs-Tribüne, wo gesungen, gebrüllt und getobt wurde. Ein Fahnenmeer, schallende Gesänge, ein Hüpfen und Springen und Hin-und-Her-Gewoge. Grossartig. Meine Gäste und meine Söhne rieben sich die Hände. Knapp 25.000 im Stadion.

Naja, das Spiel war Mist, wie fast alle Spiele an diesem Ort. Beeindruckend war auch die Kulisse aus Berlin, EISERN UNION am Stück und ich glaube, Union gewann verdient 1:4. Später im Bus traf ich dann einen Propheten aus Berlin. Zunächst erzählte ich groß und breit, dass sowas eben passieren könne. Klar, schon wieder eine herbe Niederlage zuhause. Ernüchternd. Aber die Mannschaft und auch das so hoch gelobte Publikum müssten sich schließlich erst noch an das so professionelle Stadion und seine Weite gewöhnen.

Die roten Besucher sprangen und jubelten natürlich im Bus. Einer aber war ganz ruhig geblieben und hatte meine altklugen Worten verfolgt, die ich meinen Söhnen, deren Freunde und mir selbst zum Trost und zum Mutmachen spendierte. Er stand mir halbschräg gegenüber und hörte mir aufmerksam zu.
Ein Unioner durch und durch, in roten Fanklamotten, aber nüchtern im Blick, sah er mich immer mitleidiger an. Dann schlug er mir sanft auf die Schulter. Ich drehte mich zu ihm. Meine vier männlichen Begleiter ebenso. Schlimm genug, eine heftige Heimklatsche verarbeiten zu müssen. Aber verspotten lassen wollten wir uns nicht. Aber der Unioner hatte anderes im Sinn. Es war noch schlimmer. Er hatte Mitleid.

"Ihr tut mir leid", meinte er richtig traurig.
"Hey komm, sowas kann passieren", antwortete ich.
"Ne Du, dat meine ick nich", sagte er.
Ich zuckte die Schultern.
"Ja wat denn?", fragte ich ihn.
"Ihr seid mir mal so lange sympathisch gewesen," meinte er, "fast schon eine Art Vorbild für uns Unioner, als ihr in der Bunderliga gewesen seid und auch davor. Die Pokalatmosphäre am Tivoli. Wat ne geile Hütte ihr hattet."
"Wir kommen wieder da hin", antwortete er.
"Nee, Jung, janz bestimmt nich. Ihr wisst es vielleicht noch nicht, aber ihr habt mit eurem geilen echten Tivoli eure Seele verkauft. Davon werdet ihr euch nie wieder erholen. Ihr seid ohne den alten Tivoli so jut wie tot."

Ich fühlte mich plötzlich so, als hätte ich einen nahen Verwandten verloren und jemand würde mir bei der Beerdigung sein Mitleid aussprechen.

Den roten Eisernen habe ich bald aus den Augen verloren im Getümmel des Busses. Aber sein Mitleid, seine Prognose und seine Diagnose über unsere verlorene Alemannia-Seele habe ich nie vergessen. Sie fällt mir immer wieder ein.
Und nie hätte ich gedacht, dass er schon damals vollkommen recht hatte, der eiserne rote Prophet aus Berlin.

Geändert von hemingway (04.12.2021 um 17:04 Uhr)
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